Montag, 17. August 2009

Wer kommt zu meiner Beerdigung?

Was für eine seltsame Frage, denkt sicher der eine oder andere. Schließlich kann es dem Abgetretenen doch vollkommen egal sein, wie viele und ob überhaupt Leute zu seiner Beerdigung kommen. Vermutlich hat er ganz andere Sorgen, allerdings weiß niemand so genau welche. Wir können nur wenig über die Gemütslage nach dem Exitus sagen weil noch niemand wieder zurückgekommen ist, außer in Zombiefilmen.

Wie dem auch sei. Ich bin jetzt 56 Jahre alt und während mir unter der Dusche das Wasser aufs dünner werdende Haupthaar prasselt (immerhin, ich hab noch fast alles davon im Gegensatz zu vielen Altersgenossen) kommen mir immer häufiger asexuelle Gedanken. Zum Beispiel frage ich mich, ob das Geld wohl reicht um später wenigstens bescheiden aber doch sorglos alt zu werden oder ob dann noch jemand da ist, der mich beim Schnarchen in die Seite knufft. Oder - ob Leute zu meiner Beerdigung kommen, ich kann es nun mal nicht ändern.

In der Zeitung lese ich immer wieder, dass Tausende zu diesem oder jenem Begräbnis gekommen sind um den Verschiedenen zu beweinen. Berge von Blumen und Kränzen türmten sich auf dem Grab und die wehmütigen Abschiedsreden wollten gar nicht enden. Wenn ich tot wäre und würde all diese trauernden Menschen sehen, die den großen Verlust beklagen, womit ich gemeint bin, dann würde mich das doch mit einigem Stolz erfüllen. Schließlich könnten sie ja auch was ganz anderes tun, im Internet surfen, im Café sitzen und flirten, wichtige Geschäfte abschließen oder es sich einfach mal gut gehen lassen. Stattdessen opfern sie ihre Zeit um mir die letzte Ehre zu erweisen. Das ist schon was.

Andererseits, kann ich mir denn sicher sein, dass diese vielen Leute überhaupt meinetwegen zum Friedhof oder zur Trauerfeier kommen? Zumindest kommen mir Zweifel, ob der oder die Verstorbene bei so einem Mammut-Begräbnis wirklich jeden der leise ins Taschentuch weinenden Anwesenden persönlich kannte. Bei Elvis sollen es damals mindestens 40.000 Trauernde gewesen sein und bei Lady Di noch ein paar Tausend mehr. Um die alle kennen zu lernen, müsste man praktisch jeden Tag nur noch Hände schütteln und käme sonst zu nichts mehr.

Ich gehe wohl von falschen Voraussetzungen aus, denn ich bin nicht berühmt. Bei Prominenten kommen jede Menge Leute eben wegen der Prominenz. Eine einseitige Liebesbeziehung. Hass kann natürlich auch der Grund sein. Es gibt wahrscheinlich sogar Stalker nach dem Ableben. Ein bisschen gruselig, finde ich.

Für Nicht-Berühmte wie mich gilt, es kommen nur Leute, die dich kennen und mögen und Zeit haben. Da wird's schon etwas eng. Wie viele davon gibt es in meinem aktuellen Leben? Gut, ich kenne wohl an die hundert oder mehr Menschen und kannte über die ganze Lebenszeit fünf- bis sechsmal so viele; gemeint sind all jene, mit denen ich zumindest für eine gewisse Weile persönlichen Umgang gepflegt habe. Aber mögen die mich? Und würden sie sich die Zeit nehmen, zur Beerdigung zu kommen?

Obwohl es mir, wie gesagt, eigentlich egal sein könnte, wer eine Schaufel Sand meiner Urne hinterher wirft, besonders, weil ich nicht an eine Wiedergeburt glaube, betrübt mich der Gedanke, es könnte am Ende niemand dabei sein außer dem Totengräber. Irgendwie sieht das doch so aus, als wäre ich ein furchtbarer Mensch gewesen, unfähig auch nur ein einziges Herz für sich zu gewinnen. Wahrscheinlich kalt und egoistisch und zu beschäftigt selbst auf irgendeine Beerdigung zu gehen. Mit anderen Worten: ein gefühlloses Arschloch. Mancher hätte vielleicht die Ausrede, dass er fern von der Heimat gestorben ist, fern von den Angehörigen und Freunden und deshalb in aller Einsamkeit verscharrt wurde, aber in meinem Fall fürchte ich, werde ich ganz brav zuhause den Löffel abgeben.

Ist nicht eigentlich das Andenken an einen Verstorbenen und vor allem dessen Dauer nach dem Tod ein wahrer Indikator für den Wert des Menschen zu Lebzeiten? Und wenn nun keiner an meinem Grab erscheint und an mich denkt, hab ich dann ein wertloses und damit nutzloses Leben gelebt?

Kann es sogar sein, dass wir insgeheim alle diese eine Triebfeder in uns haben, nämlich Eindruck zu hinterlassen, der groß genug ist, um auch noch nach unserem Dahinscheiden weiter zu wirken, 'not fade away', wie die Stones schon sangen? Und sind wir oft sosehr damit beschäftigt, dass wir darüber vergessen richtig zu leben, unser einzigartiges Leben mit all seinen Ecken und Kanten, und stattdessen eine Art Promotion-Ausgabe von uns präsentieren, deren Aufrechterhaltung uns fast alle Kraft kostet, die wir ansonsten zum Erreichen unser echten Ziele dringend bräuchten?

Ich bin mir nicht sicher.

Also wache ich weiter ab und zu auf, mit dem Bild eines trostlos, kalten, verregneten Novembermorgens im Kopf. Ein älterer halbkahler Mann mit Gummistiefeln und Overall versenkt achtlos ein schmuckloses Metall-Behältnis in einem Erdloch, schaufelt mürrisch Sand rein und legt eine Grassode drauf. Begutachtet kurz seine Arbeit, tritt die Sode nochmal fest und eilt unter das Vordach des Geräteschuppens um sich eine Zigarette anzuzünden.

Und das war's.


 


 

Doping

Das Dilemma beim Doping ist immer dasselbe. Wir alle sind Voyeure, mehr oder weniger begeisterte, aber immerhin. Und jede Sportveranstaltung ist schlussendlich auch eine Show. Also erwarten wir, wie im Zirkus, auf der Bühne, im Kino oder beim schweren Verkehrsunfall auf der Gegenspur, kleine Wunder, Zaubereien, Höchstleistung und wenigstens ein bisschen Grusel. Je unglaublicher, umso schöner. Das wussten auch schon die alten Römer und veranstalteten 'Brot und Spiele' um die Massen davon abzuhalten sich politische Gedanken zu machen.

Heute können wir weltweit bequem im Fernsehsessel die Gladiatoren beim Kämpfen beobachten und wenn es nicht spektakulär genug ist, zeigt der Daumen nach unten und man geht zum 2. Bier über. Wenn also unsere modernen Arenakämpfer zu allen Mitteln greifen ist das nur konsequent, alle wissen das.

Peinlich und verwerflich ist dabei lediglich die Bigotterie von Funktionären und Politikern, die sich im Zweifel im Ruhm ihrer gedopten Spitzenathleten sonnen. Es wird Zeit über einen vollkommen neuen Modus nachzudenken und Doping nicht nur zu legalisieren, sondern ganz offen zu deklarieren, wie Reifenmarken bei der Formel 1 oder Anzughersteller beim Schwimmen.

Damit wir wählen können, muss es alternativ dann eben noch die dopingfreien Spiele geben!

Samstag, 27. Juni 2009

Twitter. Na und?

Die ganze Welt ist scheinbar verrückt nach Twitter, zumindest summt und brummt es so im Internet. Aber warum? Was macht diesen maximal 140 Zeichen langen Internet-SMS-Service so genial?

Ich schicke eine kurze Text-Nachricht auf einen Server und alle jene, die sich als meine 'Jünger' bzw. follower angemeldet haben, können in kurzer Zeit sehen, dass es bei mir regnet, ich mir in den Finger geschnitten habe oder Claudia eine blöde Schlampe ist. Toll! Man kann die Nachrichten direkt im Netz, mit einem Twitter Client auf dem Computer oder auf dem Handy empfangen, bzw. ver-folgen.

Seit Obama Twitter für den Wahlkampf entdeckte, gibt es kaum noch irgendeine Zeitung, TV-Sender oder Organisation, die nicht einen Twitter-Account hat und ihn kräftig nutzt. Jede noch so kleine Meldung wird in 140 Zeichen komprimiert und in die Welt ge-zwitschert. Frisst ja kein Brot, wie mein Onkel immer so sagte.

Wenn man ein fleißiger Follower von, sagen wir, fünfzig dieser aktiven Twitterer ist, kann man dem Vorbeifließen der Tweets zugucken, wie etwa dem Niagarafällen. Ein stetes Text-Vorbei-Rauschen ohne jede Struktur und Ordnung aber mit dem schönen Gefühl, dabei zu sein. Inzwischen gibt es dazu passend jede Menge praktische Tools, wie Filter, Kurz-URLs, Hashtags usw. Alle nur dafür erfunden, um der Flut Herr zu werden oder das 140 Zeichen Diktat zu erweitern.

Der Twitter-Hype ist berechtigt, wenn man sich die nackten Zahlen anschaut. Das Ganze wurde 2006 in die Welt gesetzt und hat seitdem täglich weltweit etwa 50.000 neue User gewonnen. Allerdings bleiben davon weniger als 40% dabei, besser gesagt, sie melden sich nicht ab. Wie viele von jenen wirklich aktiv sind, ist nicht zu ermitteln. Es gibt aber sicher Situationen, wo der Dienst besonders gefragt ist, z.B. aktuell während der iranischen 'Wahlen'.

Irgendjemand hat mal zynisch formuliert: "Twitter ist ein Werkzeug, unwichtige Nachrichten an Personen zu senden, die einem vollkommen egal sind, damit sie sie nicht lesen." Und ich kann darin viel Wahrheit erkennen. Wo genau der Vorteil gegenüber anderen Systemen liegt, wird mir nicht klar. Wenn ich jemandem konkret etwas mit wenigen Worten mitteilen möchte, kann ich auch SMS nutzen, sogar mit Ankunftsbestätigung. Oder ich schicke eine email. Wenn ich mich aber tiefer mit einem Thema befassen will, geht kein Weg an einer ausführlichen Internetrecherche vorbei.

Twitter ist schnell, okay, aber was habe ich davon, wenn ich im Nachrichtenmüll ersticke, oder meine Filter so streng setzen muss, dass ich nur ein paar ausgewählte Meldungen mitbekomme aber die wichtigen verpasse?

Angeblich sollen Google und Facebook schon scharf drauf sein, Twitter zu kaufen, es wird von 500 Milionen $ Marktwert gemunkelt. Bloß wofür? Bis heute haben die Erfinder noch nicht eine Cent damit verdient. Und wie, wenn nicht mit Werbung, soll das auch gehen. Bloß, Werbung braucht Platz und wir haben nur 140 Zeichen – ich verstehe es nicht! YouTube, von Google für 1,6 Milliarden(!) $ gekauft ist bis heute ein Millionengrab, mal abgesehen vom ständig wachsendem Copyright-Ärger.

Und dann ist da noch dieses bedenkliche Follower-System. Genauso wie bei MySpace, Facebook oder allen anderen Communities ist die Anzahl der 'Freunde' oder eben 'Folgenden' die Währung, mit der Prominenz und damit Bedeutung vorgegaukelt werden soll. Aber wie aussagekräftig ist es, wenn irgendein mittelmäßiger Schauspieler über eine Million Folllower hat? Ist er damit wichtiger als der Dalai Lama? Oder Barak Obama? Ich erkenne hier wieder nur ein Mittel um die menschlichen Umgang zu technisieren und damit immer kälter, gefühlloser zu machen. Nichts gegen Gezwitscher, aber bitte von echten Vögeln im Park an einem lauen Sommerabend, während ich mit meinen Liebsten und Freunden echte Würstchen auf einem echten Grill brate und dabei jemand eine echte, leicht verstimmte Gitarre spielt und dazu singt, aus ganzen Herzen!


Hier noch ein lohnender Gedanke zum Untergang der 'Sendeblase'.

Dienstag, 14. April 2009

Ist Internet-Demokratie die bessere Demokratie?

Ein paar Gedanken zur Politik von Peter-Wolfgang Fischer

Schaut man sich den politischen Entwicklungsprozess der Menschheit an, fällt auf, dass über die Jahrhunderte die Entscheidungsmacht von einzelnen, gottgleichen Herrschern (Theokratie, Monarchie) auf immer mehr Verantwortliche (Aristokratie, Oligarchie) und schließlich auf das gesamte Volk (Demokratie, Volksherrschaft) überging. Diese Umverteilung erfolgte selten unblutig und nie freiwillig, gleichwohl mit einer erstaunlichen Zwangsläufigkeit. Offenbar schätzen alle Menschen ihre persönliche Freiheit als höchstes Gut und jede Einschränkung aus menschengemachten Gründen, ob religiös, wirtschaftlich oder abstammungbedingt führen früher oder später zu einer Befreiungs(re)aktion, wie die Geschichte zur Genüge beweist.

Wir sind also aufgrund dieser Mechanismen mittlerweile in vielen Ländern der Erde bei der Demokratie angekommen, besser: der repräsentativen Volksherrschaft. Scheinbar ist damit auch das Ende der politischen Entwicklung erreicht, schließlich kann man das Volk, den Einzelnen, und damit die politische Macht nicht mehr weiter aufteilen.

Grundsätzlich ist die vollkommene persönliche Freiheit auch in der Demokratie noch nicht erreicht. Denn solange es Herrschaft gibt, gibt es auch Herrschende und Beherrschte mit allen daraus resultierenden Folgen. Nur in einem komplett herrschaftslosen System könnte man von einer Idealverteilung der Macht sprechen, da nun jeder einzig und allein für seine persönliche Freiheit und damit auch sein Handeln verantwortlich ist. Schon seit der Antike denken Philosophen über das Für und Wider einer solchen Anarchie nach und kommen bis heute zum Schluss, dass der Mensch wohl noch nicht reif dafür ist. Der Gegenbeweis wäre anzutreten.

Vorläufig aber haben wir nun die repräsentative Demokratie, in der das Volk wenigstens die Macht heben soll, wichtige Entscheidungen für die Gemeinschaft zu treffen, wann immer dies erforderlich ist. Tatsächlich wählt es in regelmäßigen Abständen einige wenige Vertreter, eben Repräsentanten, die dann jeweils im Parlament entscheiden, was zu tun ist. Bis zur nächsten Wahl (zumeist in 4-5 Jahren) bleibt der Wählende ohne Stimme und Einfluss, kann also nur noch aus der Ferne beobachten, ob die Repräsentanten ihn auch wirklich vertreten.

Es gab bei seiner Einführung zu Beginn des 19 Jahrhunderts gut nachvollziehbare Gründe für dieses Wahlsystem. Würde man für jede zu treffende Entscheidung jedesmal einen neuen Wahlkampf mit Wahllokalen, Stimmzetteln, Auszählungen und der gesamten nötigen Logistik beginnen, wären alle nur noch damit beschäftigt, wichtige Handlungsschritte würden blockiert oder gar nicht erst unternommen.


 

Obwohl die Väter dieser Regierungsform die Nachteile kannten, nahmen sie die dennoch in Kauf, weil es bessere Systeme eben nicht gab. Und tatsächlich weist die repräsentative Demokratie eine positive Bilanz aus. Was soziale und wirtschaftliche Sicherheit betrifft, schlägt sie deutlich alle anderen Herrschaftsformen. Die Menschen nehmen diese Vorteile gern mit, was maßgeblich zur Verbreitung der Demokratie beigetragen hat und immer noch beiträgt.

Mit den Jahren treten aber auch zunehmend die Nachteile hervor. Einer davon ist das handelnde Personal. Das System hat einen völlig neuen Menschentyp geschaffen, den Berufs-Politiker. Wie bei jedem anderen Menschen, ist sein Hauptinteresse verständlicherweise, den Job zu behalten, der ihn ernährt. Er verhält sich dabei, wie jeder andere Arbeitnehmer auch: möglichst wenig anecken und mit allen Mitteln dafür sorgen, dass der Vertrag – oder besser, der Listenplatz – verlängert wird. Im besten Fall wird er dabei bloß ein wenig opportunistisch handeln, im schlechteren ist er offen für Bestechung und Postenschieberei bis hin zum Betrug. Im Zweifel wird er aber immer zuerst sich selbst und dann seine Wähler vertreten.

Ein zweites, schwerwiegendes Manko der repräsentativen Demokratie ist ihre Schwerfälligkeit. Es geht ohnehin schon viel Energie allein durch die Absicherung der parlamentarischen Machtverhältnisse verloren, erst recht, wenn Wahlen anstehen. Noch mehr versickert aber durch interne Parteipolitik, Lobbyarbeit und nebenberufliche Tätigkeiten. Das führt immer mehr dazu, dass die Parlamente nur noch reaktiv handeln, statt, wie ursprünglich gedacht, zu planen und zu führen. Die Angst, sich beim Wähler unbeliebt zu machen, lähmt zunehmend die Legislative und führt, wenn überhaupt, zu einer Politik der Mikro-Schritte mit der Option, auch diese bei Bedarf sofort wieder zu kassieren.

Andere ältere Herrschaftssysteme haben sicher schwere Konstruktionsmängel, aber in Hinblick auf die Entscheidungsfreude sind sie der repräsentativen Demokratie überlegen.

Der Wähler, dessen Stimme sich in der Hand einiger weniger Vertreter befindet, stellt immer häufiger fest, dass sich viel weniger bewegt als erwartet oder schlimmer noch, die Versprechen seiner Repräsentanten sich ins Gegenteil verkehren. Dass seine Stimme nicht nur nicht zählt, sondern womöglich sogar der Gegenseite zugerechnet wird. Er stellt zudem fest, dass er wenig bis gar keine Möglichkeiten hat, daran etwas zu ändern, denn verabredungsgemäß hat er für eine ganze Wahlperiode auf seinen persönlichen, direkten Einfluss verzichtet.

Gleichzeitig fällt es dem Wähler von Wahl zu Wahl immer schwerer sich überhaupt noch für einen Vertreter zu entscheiden, weil sie sich immer ähnlicher werden. Was kein Wunder ist, sondern zwangsläufig in Systemen passieren muss, wo die Mehrheit regiert. Die befindet sich nämlich rein rechnerisch – Gauß sei Dank – immer in der Mitte einer Gruppe, in diesem Fall des ganzen Volkes und bildet dort einen Glockenkörper. Wer also viele Stimmen bekommen will, muss möglichst viel von dem versprechen, was sich die Leute im Glockenberg wünschen. Da das aber letztlich für alle politischen Gruppierungen gilt, gleichen sich Programme und Personen immer mehr an, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind. Womit sich demokratische Wahlfreiheit de facto erledigt hat.

Jetzt könnte man einwenden, dass diese Entwicklung zwar langweilig aber dennoch sinnvoll ist, da man wohl voraussetzen kann, dass die Entscheidungen aller politischen Parteien auf diese Weise dem Wunsch der breiten Masse und damit dem demokratischen Grundgedanken entsprechen. Dabei wird aber übersehen, dass Gesellschaften dynamische Systeme sind, die ständig Veränderungen unterworfen sind. Diese Veränderungen erfolgen immer schneller und radikaler. Vieles, was vor einem Jahr noch gegolten hat, ist inzwischen obsolet. Die Halbwertzeit getroffener Entscheidungen, beschlossener Gesetze, wird immer kürzer. Darauf aber können die verantwortlichen Berufspolitiker in der Regel kaum reagieren. Erstens sind sie dem Programm verpflichtet, mit dem sie zur Wahl angetreten sind, auch wenn es inzwischen von der Wirklichkeit überholt sein sollte und zweitens fehlt ihnen der Zugang zum Alltag der Menschen und deren Sorgen, weil sie beruflich mit anderen Dingen beschäftigt sind, so dass ihnen entscheidende Signale entgehen.

Diese Entwicklung führt zu absurden und gleichzeitig beunruhigenden Ergebnissen. Immer häufiger liegt bei Kommunal- oder Landtagswahlen die Wahlbeteiligung unter 50%. Immer häufiger schaffen es dabei radikale Gruppierungen in die Parlamente zu kommen. Die Botschaft ist klar: der Durchschnittswähler glaubt nicht mehr an das System! Zu oft hat er erlebt, dass seine Vertreter Interessen ignoriert, Versprechen gebrochen und ihm immer neue Lasten aufgebürdet haben. Er hat gelernt, dass es keinen Unterschied macht, wem er seine Stimme gibt, da das Ergebnis in jedem Fall nicht das sein wird, was er gewählt hat.

Schließlich entscheidet er sich zum logischen Schritt: er verweigert seine Stimme. Dass er damit die Kreuze der aktiven Urnengänger aufwertet, ist einer der fatalen Konstruktionsfehler der repräsentativen Demokratie. So kann es passieren, dass eine Partei mit einem Mehrheitsergebnis von 30% aller abgegebenen Stimmen für vier Jahre die Geschicke einer ganzen Region bestimmen kann, obwohl sie rein rechnerisch dabei gerade mal 15% der Menschen per Stimmzettel hinter sich hat. Viel schlechter sah es da zu Zeiten der Aristokratie auch nicht aus.

Kein Wunder, dass ab und zu Stimmen laut werden, eine allgemeine Wahlpflicht einzuführen, entsprechend der Wehr- und Schulpflicht. Länder wie Griechenland, Belgien, Australien oder Kongo verwenden dieses Instrument, um die Legitimierung der Wahlen nicht zu gefährden. Andererseits – ist Wahlpflicht demokratisch? Wenn man sich nur zwischen Pest oder Cholera entscheiden kann, ist das überhaupt eine Wahl? Ist da nicht Stimmverweigerung der wesentlich demokratischere Ansatz und die einzige Möglichkeit zu zeigen, dass ich weder das eine noch das andere will.

Tatsache ist jedenfalls, die Partei der Nichtwähler wird immer größer. Viele Politiker entdecken als Ursache in den letzten Jahren eine allgemeine Wahlmüdigkeit. Es gibt ihnen zufolge einfach viel zu viele Wahlen in zu kurzer Abfolge, als das die Leute noch wirklich Interesse haben könnten. Mag sein, doch wie kommt es dann, dass Millionen von Menschen offenbar nicht zu müde sind, ihren Superstar, das Tor des Monats, den besten iTunes-Song oder den nächsten Kandidaten für Big Brother zu wählen. Und das fast täglich und sogar auf eigene Kosten? Es gibt kaum eine Web-Community die nicht irgendein voting am Start hat, kaum ein social network ohne tägliche Stimmabgaben. Statt müde zu werden, nehmen immer mehr User eifrig dran teil.

Aber hier handelt es sich um bloßes Entertainment, Freizeitspaß ohne größere Bedeutung – mit Politik überhaupt nicht zu vergleichen. Das wird gern entgegen gehalten, sobald derartige Argumente auftauchen. Bei einer politischen Wahl trifft man lebenswichtige und langfristige Entscheidungen, die alle Bereiche des täglichen Seins betreffen, was bei DSDS wohl kaum der Fall ist (sieht man mal von den Kandidaten selbst ab).

Wenn es tatsächlich stimmt, dass politische Wahlen derart tiefgreifende Bedeutung haben, dann sollte man sich ernsthaft Gedanken über die repräsentative Demokratie machen. Was bedeutet es dann, wenn bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland die stärkste Partei gar nicht im Bundestag vertreten war, nämlich die Partei der Nichtwähler. Wie sieht es mit der Legitimation der Regierenden aus, wenn ein Viertel der Bevölkerung ihnen das Stimmkreuz verweigert? Kann man sich ohne deren Stimme noch mit Fug und Recht als Vertreter des Volkes begreifen?

Wenn aber allgemeine Wahlpflicht nicht wirklich demokratisch ist und wir für Anarchie noch nicht reif sind, was könnte dann der Ausweg aus dieser unglücklichen Spirale sein?

Rekapitulieren wir: der Berufspolitiker ist anfällig für egoistische Entscheidungen, das Parlament ist zu sehr mit sich und seiner Machtkonstellation beschäftigt, Entscheidungen werden mit Blick auf Wiederwahl populistisch getroffen, die politischen Werkzeuge sind zu träge um mit der realen Entwicklung Schritt zu halten, langfristige Planungen oder gar Visionen bleiben auf der Strecke. Dies alles, weil zur Gründerzeit der repräsentativen Demokratie weder Mittel noch Wege zur Verfügung standen, das Volk jedesmal zu befragen, sobald wichtige Entscheidungen anstanden.

Und heute? Heute kann man an fast jedem Punkt der Welt aktuelle Börsenkurse in Echtzeit abrufen, Flüge buchen, Medikamente kaufen, einen Partner finden, der sich auf der anderen Erdhalbkugel befindet, man kann sich mit fast allem versorgen ohne auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen. Viele Menschen treffen problemlos und immer wieder durchaus lebenswichtige und tiefgreifende Entscheidungen mit einem Mausklick im Internet. Wie würden sie wohl klicken, wenn sie gefragt werden, ob sie die Abwrackprämie verlängern oder die Hypo-Real-Estate bankrott gehen lassen wollen? Wahrscheinlich teilweise spontan aus dem Bauch, nach Gefühl, oder kühl überlegt, nachdem man sich ausführlich informiert hat – das Internet bietet alle Möglichkeiten dazu. Wie auch immer, die Menschen würden sich genauso entscheiden, wie sie es auch bei der Wahl (oder Nichtwahl) ihrer Partei gemacht haben.

Wir haben den biometrischen Ausweis mit digitalen Fingerabdrücken, wir zahlen bargeldlos und hinterlassen eine leuchtende Spur unserer Interessen und Vorlieben dabei, wir können unsere Position auf diesem Globus bis auf wenige Meter genau dank GPS bestimmen, die Zentren der großen Städte sind lückenlos kameraüberwacht, mit sieben Merkmalen kann Interpol fast jeden Verdächtigen per Rasterfahndung lokalisieren – die Welt ist digital vernetzt und wir sind es damit auch. Nur wählen tun wir nach wie vor per Stimmzettel in der Wahlkabine einmal alle vier Jahre. Während wir hundert Emails pro Tag versenden, Telefongespräche rund um den Erdball führen, uns in Blogs veröffentlichen und live zusehen, wie in Bogota Polizisten ein Drogenversteck ausheben bleiben wir für diese vier Jahre von der politischen Willensbildung ausgeschlossen, als wäre der Bundestag auf einem Lichtjahre entfernten Planeten.

Nein, die Wähler sind nicht müde sondern verdrossen. Die Systeme passen nicht mehr zu einander, sie sind asynchron und das schon eine ganze Weile. Bewusst oder unbewusst spüren wir, dass es Zeit ist, die politischen Werkzeuge den heutigen Möglichkeiten anzupassen. Genauso hilflos, wie ein Automechaniker (er heißt nicht ohne Grund heute Mechatroniker), mit Schraubenzieher und Schraubschlüssel vor der Motorhaube eines modernen 7er BMWS steht, steht die parlamentarische Politik vor dem globalen Weltmotor. Wir brauchen den Politroniker, der digital vernetzt aktuelle Stimmungen analysiert, bündelt und sein Votum entsprechend anpasst. Adäquat zum Mechatroniker, der per Computer in Motor und Elektronik des Autos hineinhorcht, bevor er die notwendigen Schritte unternimmt, sollte der Politroniker in seine Wähler hineinhorchen um eine sichere Diagnose stellen zu können.

Statt vier Jahre auf die nächste Chance zum Kurswechsel zu warten, sollte jeder mündige Bürger jeden Tag die Chance haben, seine eigene Entscheidung zu wichtigen politischen Themen zu treffen. Ganz bequem, im Internet, per Mausklick. Mag sein, dass darunter Entscheidungen zu Themen anstehen, mit denen sich der Klickende überhaupt nicht auskennt, dann macht er seinen Klick eben nach Gefühl. Es ist eine schlichte Tatsache, dass jeder von uns wenige Themen kennt, in denen er Experte ist und weitaus mehr solche, von denen er keine blasse Ahnung hat. Das trifft auch auf unsere heutigen Parlamentarier zu. Dennoch müssen sie jeden Tag ihre Hand für oder gegen ein Gesetz heben. Es gibt also kaum begründete Sorge, dass die ‚Laien' vor dem Computer dramatisch anders entscheiden würden. Im Gegenteil, weil bei der Internet-Abstimmung zumindest die Lobbyisten und der Fraktionszwang wegfallen, dafür aber tagesaktuelle Erkenntnisse und neueste Zahlen einfließen können, dürften die Ergebnisse wesentlich besser den aktuellen Stand der Diskussion widerspiegeln. Denken wir an dieser Stelle einmal daran, was die Wurzel des Wortes Politik ist, nämlich das griechische polis, die Gemeinschaft. Politik ist also das Entscheiden und Handeln einer Gemeinschaft.

Interessanterweise wird als Hauptargument gegen die Internet-Demokratie immer wieder die Unkontrollierbarkeit und Emotionalität der so ermittelten Volkswillen angeführt. Was, wenn gerade ein Kind von einem Päderasten ermordet wurde und man würde über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen lassen? Würden sich dann nicht die meisten Menschen zum Lynchmob sammeln und alle Kinderschänder hängen? Abgesehen davon, dass man bei Entscheidungen dieser Art durchaus ein mehrstufiges Verfahren einplanen könnte, schließlich geht es hier wirklich um Tod und Leben, kann man gut an Amerika sehen, das so etwas nicht zu befürchten ist. In sämtlichen Staaten, in denen die Todesstrafe bisher abgeschafft wurde, haben selbst die furchtbarsten Massaker nicht zur Wiedereinführung geführt, obwohl oder gerade weil dazu eine Volksabstimmung durchgeführt wurde.

Überhaupt zeigt sich, dass in Ländern, in denen regelmäßig Volksabstimmungen durchgeführt werden (z.B. Österreich, Schweiz, Italien, USA) die Ergebnisse durchweg moderat und sachlich waren. Selbst bei sehr emotionalen Themen. Der Grund liegt hier in dem statistischen Umstand, dass selbst die Gaußsche Mitte immer noch sehr heterogen ist, wenn es um konkrete Lebensfragen geht. Was wir jederzeit an uns selbst überprüfen können: wie oft sind wir genau der gleichen Meinung unserer Freunde, oder nur zum Teil, oder sogar absolut konträr? Wie viel mehr gilt das dann wohl für Menschen, die nicht zu unserem Bekanntenkreis zählen.

Zugegeben, es sind wichtige Fragen zu klären, um den Wechsel zu einer Internet-Demokratie möglich zu machen. Zuvorderst die Sicherheit. Wie kann man Manipulation und Missbrauch verhindern, wie die Identität gewährleisten? Dann das grundsätzliche Verfahren; bedeutet eine Mehrheit sofort ein gültiges Gesetz, oder gibt es zunächst qualifizierende Verfahren, je nach Bedeutung der Entscheidung? Wer stellt überhaupt die Entscheidungen zur Diskussion? Wer verwaltet die Entscheidungen und gießt sie in wasserdichte Wortform? Brauchen wir überhaupt noch ein Parlament? Wer entwickelt und kontrolliert die Abstimmungen? Und wer kontrolliert die Kontrolleure?

Aber abgesehen von diesen Hürden – die wir ganz sicher nehmen können und werden, wenn wir nur wollen – über kurz oder lang wird sich das aktuelle politische System selbst abschaffen, wenn es nicht mit der Zeit geht, genau, wie so viele vorher im Laufe der Zeiten. Es gibt schon eine ganze Reihe Politiker die das wissen und andere Wege gehen. Nicht zuletzt Barack Obama, der seinen fulminanten Wahlsieg sicher auch einem klug geführten Internet-Wahlkampf verdankt. Auf dem Weg zum freien, selbstbestimmten Menschen führt letztlich kein Weg an mehr politischer Beteiligung und damit persönlicher Verantwortung vorbei. Die technischen Mittel sind jedenfalls vorhanden.